Die Beziehung zwischen Bürgertum und Faschismus in Italien ist ein vielschichtiges Thema. Vorboten dieser „verhängnisvollen Affäre“ waren schon Ende des 19. Jahrhunderts nicht zu übersehen. Insgesamt hält die Diskussion darüber genau genommen bis heute an und ihre Folgen sind weiterhin tief in die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse des Landes eingebettet. Die Entstehung des italienischen Faschismus, einer Bewegung, welche von Benito Mussolini im Jahr 1919 gegründet wurde, kann ohne eine gründliche Analyse der Rolle des Bürgertums nicht vollständig verstanden werden. Dieser Artikel beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Kräften und untersucht, wie Bürgertum und Faschismus sich gegenseitig sowohl argwöhnisch beobachteten als auch bedingten.
Das Bürgertum in Italien vor dem Ersten Weltkrieg
Das Bürgertum in Italien, auch als „Borghesia“ bezeichnet, bezieht sich auf die gesellschaftliche Klasse, die zwischen den einstmals „niederen Klassen“ und der Aristokratie angesiedelt war. Es umfasst vor allem die städtische Mittelschicht, zu welcher wohlhabende und gebildete Bürger gehören, die oft in Bereichen wie Handel, Industrie, Finanzwesen, Verwaltung und freien Berufen tätig sind. Historisch gesehen spielte das Bürgertum und sein Hang zum säkularen Liberalismus eine zentrale Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Kultur des Landes, insbesondere im Kontext der nationalen Einigung im 19. Jahrhundert und der wirtschaftlichen Modernisierung.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das italienische Bürgertum die treibende Kraft liberaler und nationalistischer Bewegungen im 19. Jahrhundert war, welche zur Vereinigung Italiens führten, ohne aber jemals eine politische Heimat im Sinne einer parteipolitischen Bindung gefunden zu haben. Im 20. Jahrhundert stellte es auch aufgrund dieses Mangels eine einflussreiche soziale Gruppe dar, die jedoch in unterschiedlichen politischen Kontexten, wie dem italienischen Faschismus oder der Nachkriegszeit, verschiedene Rollen einnahm.
Italien war bis zur Vereinigung im Jahr 1861 in mehrere kleine Staaten und Königreiche zersplittert. Diese Fragmentierung führte dazu, dass es kein einheitliches Bürgertum gab, sondern viele regionale Eliten, die sich oftmals in Konkurrenz zueinander sahen. Das italienische Bürgertum (sofern man angesichts der außerordentlichen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Heterogenität überhaupt von einem italienischen Bürgertum im Singular sprechen mag) blieb nicht nur unzureichend politisch mobilisiert, sondern vor allem auch dreigespalten zwischen den Liberalen Nation-builders und den beiden Systemoppositionen der Republikaner und der Klerikalen.
Antiklerikalismus als politisches Bindeglied
Gemein war zumindest den ersten beiden dieser Gruppen zunächst die Ablehnung des kirchlichen Einflusses auf bildungsfernere (meist analphabetische) Schichten, deren politisches Gewicht von den meisten Angehörigen dieses Bürgertums in Frage gestellt wurde. Eine Arbeiterschaft, wie es sie Mitte des 19. Jahrhunderts bereits in England oder Frankreich gab, war ja vorerst aufgrund der spät einsetzenden Industrialisierung nicht vorhanden. Entsprechend lang dauerte es, bis in dem neuen Staat ein allgemeines Wahlrecht eingeführt wurde, welches zeitweise sogar an den Bildungsgrad der Wählenden geknüpft wurde. Parallel zur schrittweisen Einführung des allgemeinen Wahlrechts musste also auch der Kampf gegen den (nach Schätzungen bis zu 75% der Bevölkerung umfassenden) Analphabetismus geführt werden.
Das wirtschaftliche Wachstum in Italien unterlag auch aufgrund der unterschiedlichen Verteilung des Analphabetismus von Region zu Region großen Schwankungen, und die Disparitäten zwischen Nord- und Süditalien verschärften soziale Spannungen. Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Unsicherheiten, als die italienische Wirtschaft schweren Belastungen ausgesetzt war und die Kriegserfahrungen zu weit verbreiteter Frustration führten.
Das Bürgertum und der Aufstieg des Faschismus in Italien
Der Faschismus in Italien entstand in einem Klima der politischen Instabilität und wirtschaftlicher Unsicherheit. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebte Italien eine Phase intensiver sozialer Unruhen, bekannt als das „biennio rosso“ (rote Biennium), während der es zu zahlreichen Streiks, Landbesetzungen (siehe Artikel über die Agrarpolitik der Faschisten) und Aufständen kam. Das Bürgertum, welches um seine wirtschaftliche Stellung und seine Privilegien fürchtete, blickte sorgenvoll auf den entstehenden Sozialismus und die Arbeiterbewegung. und hier war man sich über alle politischen Gräben hinweg überraschend einig. Klerikale wie Liberale konnten in der sozialistischen Bewegung nichts anderes als den „Untergang des Abendlandes“ sehen.
Der italienische Faschismus erschien daher vielen Mitgliedern des Bürgertums als eine attraktive Alternative zu den als staatsgefährdend empfundenen sozialistischen Kräften. Benito Mussolini, ursprünglich ein sozialistischer Journalist, wandte sich dem schon von liberaler Seite propagierten Nationalismus zu. Gewalt als Mittel zur Erreichung politischer Ziele wurde so nebenbei als machtpolitische Conditio sine qua non verkauft. Auf dieser Basis versprach er eine starke Regierung, die in der Lage sei, Ordnung zu schaffen, die Wirtschaft zu stabilisieren und die sozialen Konflikte zu beenden.
Das Bürgertum unterstützte den italienischen Faschismus häufig aus pragmatischen Gründen. Viele Industrielle und Großgrundbesitzer sahen in Mussolini einen Verbündeten, der die Arbeiterbewegung unterdrücken und die Interessen des Kapitals schützen würde. Auch Teile der städtischen Mittelschicht, die sich von der Wirtschaftskrise und den sozialen Unruhen bedroht fühlten, schlossen sich der faschistischen Bewegung an, in der Hoffnung auf Stabilität und eine Rückkehr zu traditionellen Werten.
Die faschistische Herrschaft und das Bürgertum
Nach der Machtübernahme 1922 begann Mussolini, den italienischen Staat nach faschistischen Prinzipien umzugestalten. Der italienische Faschismus propagierte einen totalitären Staat, in dem das individuelle und wirtschaftliche Leben vollständig der Kontrolle des Regimes unterworfen war. Die Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti durch Faschisten 1925 wurde und wird als der Übergang vom parlamentarischen Italien zur Diktatur gesehen. Obwohl das Bürgertum anfänglich die faschistische Bewegung unterstützt hatte, änderte sich die Beziehung nicht nur im Laufe der Zeit, sondern gerade auch durch einschneidende Ereignisse wie eben diese offene Anwendung individueller Gewalt in quasi staatlichem Auftrag.
Mussolini führte eine Politik der „corporazione“ ein, die darauf abzielte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in staatlich kontrollierten Berufsverbänden zu organisieren, um Klassenkonflikte zu überwinden. Dies bedeutete, dass die wirtschaftlichen Freiheiten des Bürgertums zunehmend eingeschränkt wurden, da der Staat in das wirtschaftliche Leben in nicht mehr zu tolerierender Weise eingriff. Die Autarkiepolitik (siehe Battaglia per il grano) und die Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs im italienischen Faschismus brachten zusätzliche Belastungen, die vor allem die bürgerlichen Unternehmen hart trafen.
Die Begeisterung des Bürgertums für den italienischen Faschismus nahm schließlich nicht nur Schritt für Schritt ab, Teile davon wandten sich auch in Form von Partisanengruppen direkt und unmittelbar gegen ihn. Als sich nach der Badoglio-Erklärung am 8.9.1943 die verschiedensten politischen Gruppen im Widerstand fanden, war auch das klerikale und liberale Bürgertum vertreten (z.B.Brigate OSOPPO-Friuli).
Fazit: Eine komplexe Beziehung
Die Beziehung zwischen Bürgertum und Faschismus in Italien war von Anfang an ambivalent. Grundsätzlich stand der italienische Faschismus in seiner antiklerikalen Haltung vielen liberalen Ansichten gefährlich nahe. Auch die Ablehnung von Sozialismus muss vielen Angehörigen des Bürgertums aus der Seele gesprochen haben. Während also Teile des Bürgertums den Faschismus als Bollwerk gegen den Sozialismus und Garant für Ordnung begrüßten, führte die autoritäre und interventionistische Politik des Regimes letztlich aber zu Spannungen und Entfremdung. Das Bürgertum unterstützte Mussolini so lange, wie seine Politik ihren Interessen diente, doch als der italienische Faschismus zunehmend seine destruktive und totalitäre Natur offenbarte, zog sich ein Teil der bürgerlichen Klasse zurück oder wandte sich offen gegen ihn.
Die Geschichte des Bürgertums und des Faschismus in Italien zeigt, wie populistische Bewegungen komplexe soziale und wirtschaftliche Kräfte mobilisieren können, aber auch, wie fragil Allianzen in Zeiten des Wandels und der Krise sein können. Die Lehren aus dieser Zeit erinnern uns daran, dass die Unterstützung für autoritäre Regierungen oft auf kurzfristigen Interessen basiert, die jedoch langfristig schwerwiegende Folgen haben können.
Bürgertum und Arbeiterschaft in der Symphonie (die Nähe des Bürgertums und des Faschismus als Ausdruck des Klassenkampfs)
Das Bürgertum in seiner Gier erklärt sich eigentlich nur über den Antipoden, die Arbeiterschaft. Beide beäugen sich misstrauisch und der Nutzniesser ist die Apotheose von Gier und Neid, der Faschismus. Von beiden Gesellschaftsschichten bezieht der Faschismus seine energetisches Potenzial. In unserer Symphonie bezieht das Bürgertum sein melodisches Material aus dem Krebsgang des Sozialistensongs „Avanti popolo“. Die beiden Antipoden geraten heftigst aneinander und bilden so den dramaturgischen Höhepunkt des Satzes. Nirgendwo sonst ist die drohende Apokalypse so immanent.