Notizen zum Schaffensprozess meiner Symphonie „Resistenza“
Teil 1 dieses Artikels finden Sie hier.
Musik hat gegenüber Literatur und Malerei zwei gewichtige Nachteile, welche sich aber unter gewissen Bedingungen in den Vorteil der Unmittelbarkeit verwandeln. Zum einen ist da die zeitliche Begrenztheit ihrer Wirkung. Kann man ein Buch immer wieder lesen, vergeht die Musik im Augenblick ihres Entstehens. Lediglich die Existenz von Tonträgern macht das Erleben weniger spontan, dafür wurde aber etwa zeitgleich mit der Entwicklung von Tonträgern der Komplexitätsgrad von Musik immer höher. Der zweite Nachteil wurde schon angedeutet und betrifft die mangelnde semantische Eindeutigkeit. Sie beschreibt und vermittelt Spannung oder Entspannung, aber sie wird zum Beispiel nie sagen können: der Rasen ist grün. (Wobei das bei Robert Musil auch in Bezug auf die Sprache in Frage gestellt wird.)
In jedem Fall wirkt sie aber auf einer unterbewussten Ebene und teilt sich den tiefer liegenden Hirnstrukturen (hier muss ich leider den kleinen Umweg über die Neurochirurgie nehmen) unmittelbarer mit. Der gesamte Hörapparat ist mit wesentlich basaleren Hirnstrukturen verbunden als, sagen wir, der Sehapparat. Viel unmittelbarer empfinden wir beim Hören Emotionen als beim Sehen und (ein typischer Spruch von Kognitionswissenschaftlern) Augen kann man schließen, Ohren hingegen nicht.
Der Komponist, der nicht nur Rezipient, sondern vor allem auch (rationaler) Produzent ist, kann sich diesen Überlegungen nicht ganz entziehen. Was machen also Dantes Bilder mit einem Unterbewusstsein, welches bereits von den Bildern aus Butscha und Bachmut völlig überfordert ist? Wie kann namenloses Entsetzen so zusagen akustisch radikalisiert werden? Und ist es nicht auch Aufgabe der Kunst, zu sublimieren?
Meine Antwort ist eindeutig: die ununterbrochene Spannungsüberflutung wird sich in der Musik von ganz allein ihre Bahn brechen. Die Musik wird für mich zum Überlaufbecken meiner Wut. Wut über die schamlosen Lügen eines Putin und seiner Apologeten in der westlichen Welt, Wut über „alternative facts“ und die schwindende Hoffnung, dass Vernunft noch siegen könnte. Aber auch Wut über die eigene Machtlosigkeit und die Oberflächlichkeit dieser Welt. Dieser musikalische „stream of consciousness“ kann keinem domestizierenden System folgen, er folgt lediglich der inneren Plausibilität für mich.
Somit fließt politische und musikalische Spannung zusammen. Kein von außen übergestülptes System, welches per se Ausdruck des Widerstandes ist, soll die Spannung eindämmen und „verfügbar“ machen.
Gänzlich finde ich mich da bei Walther Friedländer, der 1952 über die Avantgarde schreibt: »Man gebärdet sich individualistisch und leistet doch keinen Widerstand, wie es Schönberg und noch Webern taten, auf die man sich beruft. […] Die Dissonanzen der ›Punktuellen‹ klingen stumpf, weil ihnen der Motor des Protestes fehlt. Sie sind domestiziert.«
Diese musikalischen Inhalte jetzt wieder in Bilder zurück zu übersetzen, ist die Aufgabe meines Sohnes. Ich beneide ihn nicht darum. Die Musik und die Symphonie ist im letzten Monat nach 2 Jahren bei ihren letzten Takten angekommen. Dass die spontane Entscheidung dazu richtig war, beweist mir mein Gefühl, dabei etwas verstanden zu haben und dem animalischen Treiben etwas entgegensetzt zu haben. Es war wohl, wie ich an anderer Stelle schon gesagt habe, ein Akt der Psychohygiene. Ein Satz noch zu Dante: Alle drei Teile der göttlichen Komödie enden mit dem Wort „stelle“, den Sternen (e quindi uscimmo a riveder le stelle). Diese Sterne wieder zu sehen ist wohl der innigste Wunsch, welcher meine Musik durchzieht und letztlich auch enden lässt.